5.12.2022 Ansgar


Rötlicher Fackelschein zuckte über dicke, graue Mauern. Kälte kroch in seine Glieder. Es roch nach Moder und Angst. Im Griff der Soldaten wurde er unerbittlich vorwärts geschoben. Es schnürte ihm die Kehle ab. Diesen Weg kannte er. Schmerzen standen an seinem Ende und die einzige Hoffnung schien ein schneller Tod zu sein. Warum? Wolfhard. Verdammt, ist unsere Freundschaft gar nichts wert? Was willst du noch? Es ist ohnehin zu spät. Doch Ansgar wusste, was den König trieb. Er musste nicht fragen. Es war Rache und verblendete Trauer. Wut über die eigene Hilflosigkeit. Machtlosigkeit angesichts all seiner Macht. Nichts tun zu können, obwohl man doch so gern wollte. Oh ja, Ansgar kannte dieses Gefühl. Wenn er einen der Räuber in die Finger gekriegt hätte, er hätte ihn ganz langsam auseinander genommen. Und Wolfhard hatte eben nur ihn in die Finger gekriegt. Den einzigen Schuldigen, dessen er habhaft werden konnte. Nur war er keiner der Räuber. Kein Täter. Er war ebenso Opfer des Überfalls gewesen, wie alle anderen. Sein einziges Glück: Überlebt zu haben. Obwohl? War das wirklich ein Glück, angesichts dessen, was ihn nun erwartete. Er schluckte. Dort. Eine schwere Eichentür schälte sich aus der Dunkelheit. Die Folterkammer. Er kannte sie bereits. Ein zweites Mal. Schon wieder. NEIN! Er stemmte die Füße in den Boden. NEIN. Nie wieder. Er wand sich im Griff der Soldaten und trachtete danach sich loszureißen, doch vergeblich. Der Raum der Schmerzen rückte unerbittlich näher.
Hitze aus der lodernden Esse empfing ihn und gab einen Vorgeschmack auf die Hölle. Ketten hingen von der Decke. Peitschen an der Wand. Alles hier atmete Schmerz und Angst. Seine Kehle wurde eng. Der Widerstand erlahmte. Man kettete ihn an.
Was folgte war unaussprechlich. Er schrie. Wolfhard kam und weidete sich an seiner Qual. Alle Worte halfen nicht. Er blieb erbarmungslos. Ansgar zog sich tief in sich zurück. Sammelte alle Kraft um sich nicht noch mehr zu entblößen. Um dem König keine weitere Genugtuung zu geben.
Als es für den Augenblick endete, war er nur noch halb bei sich. Man ließ ihn einfach hängen. Die Augen fielen zu. Er dämmerte vor sich hin.
Plötzlich waren da sanfte Hände. Sachte Berührungen. Er schlug die Augen auf. Sein Gesicht verzog sich zu einer Grimasse. Katharina.
Tränen standen in ihren Augen. Und ihr Blick streichelte seine Seele. »Oh, Ansgar, was hat er nur getan.«
»Es ist nichts.«
»Du Lügner. Er hat dich fast umgebracht.«
»Ganz wäre mir gerade lieber, muss ich gestehen.«
»Ohh, duuu,… nein, das würde ich nicht ertragen. Kannst du stehen?«
»Ich hoffe es.«
»Dann warte.«
»Nichts anderes habe ich vor… Alleine komme ich hier nicht weg.«
Sie schnaubte ganz undamenhaft. »Wie kannst du da noch scherzen?«
»Was soll ich sonst tun?.«
Es rasselte. Der Zug auf seine Gelenke ließ nach. Seine Arme sackten herab. Er wankte. Hätte Katharina nicht beherzt zugefasst, wäre er gestürzt.
»Danke« murmelte er. »Aber was tust du eigentlich? Wenn uns jemand erwischt…«
»Schhhh, lass mich machen. Die Wachen sind ausgeschaltet… Niemand wird kommen… niemand uns erwischen.«
Ansgar nickte nur. Er musste kämpfen, um aufrecht zu bleiben.
Wenig später huschten sie dunkle Gänge entlang. Nur eine Fackel erleuchtete den Weg. Katharina kannte sich aus. Schließlich jedoch endete sie an einem Gatter. Eine dicke Kette mit einem Schloss verrammelte es. Ansgar schluckte:
»Und nun?«
»Warte.«
Katharina leuchtete an der Wand ein kleines Kästchen an. Dort drinnen fand sich ein Schlüssel. Und kurz darauf öffnete sich Schloss, Kette und Gatter.
»Begleitest du mich?« Ansgar fragte hoffnungsvoll und wagte doch nicht, daran zu glauben.
Katharina schüttelte den Kopf. »Nein, ich kann nicht, Ansgar. Bitte verzeih.«
»Es gibt nichts zu verzeihen. Ohne dich, wäre ich heute schon ein toter Mann.«
Sie schluckte, nickte und fiel ihm um den Hals. Ansgar taumelte unter dem Anprall zurück und fing sich nur gerade eben an der Wand ab. Er schnaufte unterdrückt. Dann verschlossen ihre warmen, vollen Lippen seinen Mund und er versank in einem Kuss. So unglaublich süß. So schmerzlich. Wie gerne hätte er sie sein genannt. Aber er konnte ihr ein Leben wie das seine nicht zumuten. Er würde Gejagter sein. Gejagt durch alle Länder. Er erwiderte den Kuss und schließlich endeten sie beide atemlos.
»Du musst jetzt gehen, Ansgar. Ich hoffe, dich eines Tages wieder zu sehen. Dann unter besseren Umständen.«
»Das hoffe ich auch. Pass auf dich auf, Katharina. Die Königsburg ist eine Schlangengrube geworden.«
»Das ist wahr. Aber du, pass du besonders auf dich auf. Ich kann dich nicht jedes Mal retten. Und nun lauf. Ich weiß nicht, ob sie nicht doch irgendwann suchen kommen. Wenn Wolfhard zu sehr tobt.«
Ansgar nickte, stahl sich einen letzten Kuss und wandte sich um. Er trat aus dem Gang in den dämmernden Herbstmorgen. Nebel hing noch in den Bäumen, die mit ihren dunklen Ästen nach ihm zu greifen schienen. Seitlich stand ein Bauernhaus. Aber er wagte es nicht, dort um Hilfe zu bitten. Er begann zu rennen. Einfach zu rennen. Immer weiter. So weit ihn seine Füße trugen. Richtung Lindfeld und Ramaria. Er rannte und rannte. Sein Atem flog. Die Striemen schmerzten. Aber er spürte es nicht. Was ihn erwartete, war alle Strapazen wert. Freiheit.