3.12.22 Liriene


Ihre Hände krampften sich um die Zügel. Ihr Herz pochte laut. Doch niemand um sie herum schien es zu bemerken. Nur das Pferd unter ihr stampfte unruhig, während sie ihren Blick schweifen ließ. Über Dächer und Straßen. Die Stadt war größer als jede andere, die sie zuvor gesehen hatte. Mitten drin die riesige Kathedrale, die noch unfertig und doch schon so beeindruckend in den Himmel ragte. Nebendran der Fluss, der sich ein tiefes Bett in die Felsen gegraben hatte. Dahinter die Königsburg. Da lag ihre Zukunft verborgen. Dort war Wolfhards Heimat. Ihr neues Zuhause. Sie biss sich auf die Lippe. Er ritt ihr entgegen. Ein ganzer Trupp Ritter begleitete ihn. Standarten mit dem goldenen Wolf auf schwarzem Grund wehten im Wind. Ihre Männer hatten die adralgische Flagge mit den Bergen auf blauem Grund mitgebracht. Gemeinsam bildeten die Ritter nun ein Spalier. Liriene glitt geschmeidig von ihrem Pferd. Wolfhard auf der anderen Seite tat es ihr gleich. Langsam, ja bedächtig schritten sie aufeinander zu. Fanfaren wurden geblasen. Mit jedem Schritt pochte ihr Herz mehr. In der Mitte trafen sie sich.
Wolfhard ergriff ihre Hände. »Meine hochverehrte Liriene, Prinzessin von Adralgar und hoffentlich bald Königin von Eloan. Ich begrüße Euch aufs Herzlichste in Eurer neuen Heimat. Ihr seid noch schöner, als ich Euch in Erinnerung hatte. Ich hoffe, Ihr hattet eine gute Reise?«

Sie nickte und errötete, überwältigt von diesem Moment. Er sprach freundlich zu ihr. Seine Stimme klang angenehm, tief und voller Wärme.
»Mein König Wolfhard. Ihr macht mich verlegen. Ich freue mich sehr, dass ich nun hier bei Euch ankommen durfte. Die weite Reise verlief besser als befürchtet. Wir sind weder bösen Menschen noch wilden Tieren begegnet und der Herrgott war uns auch mit dem Wetter gnädig.«
»Das freut mich zutiefst. So erlaubt, dass ich Euch zu Eurem Pferd geleite und Euch den letzten Teil des Weges begleite. Und ich hoffe, Ihr werdet Euch wohlfühlen in Eloan.«
Liriene legte ihre Hand auf die Wolfhards, die er leicht gehoben hatte. Gemessenen Schrittes gingen sie auf die Stadt zu. Jemand hatte ihr Pferd hinter den Spalierreihen neben das Wolfhards geführt. Der König bückte sich leicht und half ihr in den Sattel. Dann stieg er selber auf. Ein Herold und vier Fahnenschwenker postierten sich vor ihnen. Hinter sich wusste Liriene die Ritter Adralgars und Eloans. Neben Wolfhard ritt sie den Hügel hinab. Die letzte Strecke in ihre neue Heimat.

Die Straßen der Stadt waren geschmückt. Menschen jubelten ihr zu. Es war laut. Der Dreck in den Gassen nur unzureichend beseitigt. Es stank erbärmlich nach altem Fisch, gammelndem Fleisch und nassem Hund. Am liebsten hätte sie sich die Nase und die Ohren zugehalten. Stattdessen winkte sie den Menschen lächelnd zu.
»Sie freuen sich auf Ihre neue Königin. So wie ich mich auch.« Wolfhard nickte ihr zu und hob zugleich die Hand, um seinem Volk ebenfalls zurückzuwinken.
Liriene war erleichtert, als sie den Marktplatz und die Kathedrale passiert hatten und den Burgberg hinaufritten. Der schlimmste Gestank blieb hinter ihnen zurück. Im Burghof, hatte sich das gesamte Burgvolk versammelt. Applaus und Jubelrufe ertönten. So viele Augen waren auf sie gerichtet, warteten auf eine Geste. Sie richtete sich im Sattel auf und rief: »Ich bedanke mich von Herzen für Euren herzlichen Empfang. Ich bin gerührt und voller Freude, nun endlich hier sein zu dürfen. Bitte seid gnädig mit mir, wenn ich erst lernen muss, wie das Leben in Eloan vonstatten geht.«

Wolfhards Blick ließ erahnen, dass sie irgendetwas gesagt hatte, dass nicht ganz passend war, aber er ging schweigend darüber hinweg, klatschte in die Hände. »Ihr wisst, was zu tun ist! Ich will, dass meine zukünftige Frau sich hier so wohl fühlt, wie es nur möglich ist.«
Jemand trat an Lirienes Pferd und hielt ihr den Steigbügel. Sie schwang sich herab und landete sicher am Boden. Wolfhard tauchte an ihrer Seite auf und geleitete sie in die Halle. Dort war bereits gedeckt, hunderte Kerzen brannten und Wolfhard führte sie an die Hohe Tafel, wo sie neben ihm Platz nahm. Der junge König übernahm es persönlich, ihr vorzulegen und die besten Stücke und Speisen für sie auszuwählen. Schließlich schob sie den Teller von sich: »Beim besten Willen, Wolfhard, ich kann nicht mehr.«
»Ich hoffe, es hat Euch gemundet.«
»Sehr, Ihr habt mich mehr als verwöhnt!«
»Oh,« wieder dieses gewinnende Lächeln, »Ihr habt es Euch verdient, meine Liebe. Ihr hattet eine weite Reise und sicher wollt Ihr Euch erfrischen, doch zuerst bitte ich Euch mich zu begleiten.«
»Was immer Ihr wünscht, mein Herr.«
Wolfhards Gesicht wurde Ernst: »Ja, ich wünsche, aber nur, wenn es auch für Euch genehm ist.«
»Das Ausruhen kann noch einen Augenblick warten.« Sie lächelte, obwohl sie kaum verhehlen konnte, dass sie ehrlich erschöpft war.
»Nun, dann kommt.«

Er führte sie Treppen hinauf. Hunderte von Stufen. Immer im Kreis. Am Ende musste sie kämpfen genug Luft zu bekommen. Schließlich stieß der König eine Luke auf und half ihr hinaus auf die Plattform des Burgfrieds. Ein steifer Wind fing sich in ihren Haaren und wehte ihr Strähnen ins Gesicht. Wolfhard hakte sie unter und trat mit ihr an den Rand des Söllers. Unter ihnen schwappte das eloanische Meer an die Klippen. Das Tosen war bis hier herauf zu hören. Liriene holte tief Luft. Diese Weite. Dieses Blau. Die Sonne stand ihnen entgegen, glitzerte auf den Wellen. Möwen und andere Seevögel glitten im Flug über die Fläche, tauchten immer wieder ein, schrien grell. Kap Eloan ragte als Landspitze in die See hinein. Liriene konnte sich nicht satt sehen. Als sie sich umwandten, fiel der Blick über Land und Wiesen, Bäume und Wald. Ganz im äußersten Westen waren die Gipfel der adralgischen Berge im Dunst zu erahnen. Liriene seufzte. So freundlich man ihr hier auch begegnete, dort war ihre Heimat und hier alles neu.