Karla. Er kannte sie, seit er denken konnte. Und mehr noch, er liebte sie, seit er denken konnte. Sie war das Mädchen von nebenan. Sie war einfach gekleidet, wie alle hier in den Bergen und doch strahlte sie für ihn wie eine Königin. Er tat alles, um ihr so oft als möglich zu begegnen. Er passte sie ab beim Wasserholen. Er winkte ihr, wenn er die Ziegen abholte. Sie war sein Sonnenschein in den dunklen Tagen. Als er eines Tages ein wenig zu spät an den Bach kam, war da ein Berglöwe, der sie bedrohte. Sein Herz setzte einen Schlag lang aus. Ohne zu überlegen ging er mit seinem Hirtenstock auf das Raubtier los. Laut rief er, schlug den Stock klappernd an Steine und zischte das Vieh an. Tatsächlich beeindruckte es den Berglöwen und er verschwand. Karla anschließend zu trösten war sein heimliches Vergnügen. Er war so dankbar, dass er ihr hatte helfen können, dass sein Herz fast platzte.
Während des Tages hatte er zu seinem Bedauern nie Zeit ihr nahe zu sein. Entweder trieb er die Ziegen auf die Weide oder er half später dem Vater in der Schmiede. Aus dem Unterstand konnte er Karla beobachten, wie sie mit den anderen Kindern spielte. Immer wenn sie mal einen Blick zu ihm warf, huschte ein trauriges Lächeln über ihr Gesicht und er wäre so gerne zu ihr gerannt, um sie in seine Arme zu ziehen und ihr zu sagen, sei nicht traurig, Es ist alles gut. Doch selbst für die wenigen Wimpernschlge, die er sich nahm sie zu beobachten, bekam er oft Schläge seines Vaters, der ihm zu verstehen gab, dass seine ganze Aufmerksamkeit der Schmiede und der Arbeit zu gelten hatte.
Dann kam der Tag, an dem seinem Vater das Unglück geschah. Ben war entsetzt, als er von dem Seinschlag erfuhr, denn auch wenn sein Vater ihn häufig schlug und hart rannahm, so war er doch auch zuweilen fürsorglich gewesen. Er hatte Verantwortung getragen für die Familie. Ben seufzte. Zu sehen wie seine Mutter weinte, wie sich die Geschwister eng aneinander drängten und Angst, Trauer und Sorge in ihren Gesichtern stand, brachte auch ihn zum Weinen. Er versprach der Mutter hoch und heilig, sich zu kümmern. Mit einem Mal klopfte es an der Haustür. Fast erschrocken fuhr er herum. Wer wagte es, sie in ihrer Trauer zu stören? Er nickte der Mutter zu und trat an die Tür, Mit einem etwas beklommenem Gefühl öffnete er die Tür. Karla stand davor. Einen zarten Wildblumenstrauß in den Händen und verlegen zu Boden blickend. Er lächelte leise. »Karla, wie schön dich zu sehen, komm herein!«
Sie verneinte Kopfschüttelnd und Ben spürte leise ENttäuschung. Wozu war sie gekommen, wenn sie nicht hereinkommen wollte. Doch er drängte seine GEdanken zurück, Sie war seinetwegen gekommen. Er konnte nicht anders. Er lächelte, diesmal breiter als zuvor. Er betrachtete die Blumen. und Adralheilglöckchen. Lockerblütiges Schmetterlingskraut und andere. DIe Farben harmonisierten. Es war eine Geste so zart und liebevoll wie sie in diesen Rauen Bergen nur sein konnte. »Danke, die sind wunderschön, Karla und du hast dir solche Mühe gegeben sie zu pflücken.«
»Woher weißt du?« Das Erstaunen in ihrer Stimme amüsierte ihn heimlich.
»Nun diese hier wächst nur oben auf der Weide«, Er kannte die Pflanzen gut, es war eine heimliche Leidenschaft, »im Tal findet man sie nicht. Und nun komm rein, hier beißt niemand mehr.« Ben nahm sie an der Hand und zog sie über die Schwelle.
Jahre später bezogen sie ihre eigene Hütte. Ben kümmerte sich weiterhin um die Schmiede des Vaters und versorgte seine Mutter und jüngeren Geschwister. Karla lernte bei Anneli alles über Kräuter und Heilkunde und wie man Kinder auf die Welt holte. Auf ihr eigenes Kind mussten sie lange warten, aber inzwischen war Merit erwachsen und hatte mit Menar selbst eine eigene Hütte und ihnen ihr erstes Enkelkind geschenkt. Er war so dankbar. Für die Frau an seiner Seite. Für die Gnade, die Gott ihnen immer wieder schenkte. Für sein Leben in diesen Bergen. Bis zu diesem Tag. Bis er fürchten musste, Karla zu verlieren.