Hanna saß wie so oft am Marktplatz und beobachtete die Händler und die Frauen der vornehmeren Herren. Ganz selten kam sogar Frau Katharina aus der Burg mit einigen der Herren Ritter oder einem Pagen oder Knappen oder wie das hieß. Man erkannte sie an ihren herrlichen, langen, blonden Haaren und den wundervollen. meergrünen Kleidern. Sie strahlte wie eine Königin, die sie ja auch fast war. Prinzessin nannte man das wohl, denn sie war die Schwester des Königs. Aber heute war sie nicht da, jedenfalls hatte Hanna sie noch nicht gesehen.
Dafür war der Hunger da. Und der war heute schlimmer als sonst. Seit Tagen hatte sie nichts mehr verdient, weil es so heftig geregnet hatte, dass der Marktplatz ein Matschbad gewesen war, so dass kaum einer den Markt besucht hatte. Und wenn, dann waren es nur Burschen, die es eilig hatten und Manns genug waren, ihren Einkauf selber nach Hause zu tragen. Hanna schniefte und zog ihre Nase hoch.
Auf dem Platz war für das Fest des Heiligen Christ ein großer Tannenbaum aufgerichtet worden, den man mit Äpfeln behängt hatte. Hannah überlegte, wem die Äpfel wohl gehörten und ob wohl jemand bemerken würde, wenn sie einen…. Nur einen.
Sie hatte doch solchen Hunger und es schadete doch niemandem. Sie schluckte trocken und erhob sich. Wie zufällig schlenderte sie durch die Reihen mit den Auslagen der Händler. Aber weder Stoffe noch edle Waffen oder Geschmeide interessierten sie, auch nicht die Fische aus dem Meer oder das Schweinefleisch, das ein Bauer feilbot. Aber so einen Apfel, den musste sie haben. Ihr lief das Wasser im Mund zusammen.
Schließlich war sie so nah, dass die unteren Äste des Baumes sie streiften. Sie warf einen Blick über den Platz. Niemand schaute zu ihr. Schnell wandte sie sich dem Baum zu. Sie brauchte eine Apfel, der niedrig genug für ihre Arme hing. Dort. Noch ein schneller Blick. Sie packte zu. Rund und fest lag er in ihrer Hand. Sie zog, doch der Apfel wollte nicht von der Stelle weichen, sie zog etwas fester. Der Apfel löste sich und sie stolperte rückwärts, einem Mann vor die Füße.
»Was tust du da?« Er packte sie am Arm und schüttelte sie »Diebstahl! Dieses Gör klaut einen Apfel vom Baum des Heiligen Christs, das ist Frevel!«
Hanna war zuerst erstarrt, aber während der Mann sie schüttelte und zeterte, riss Hanna sich los und stürzte den einzig offenen Weg entlang. Vorbei an den Fischen. Hinter und neben ihr schrien die Menschen. Hände streckten sich nach ihr. Aber sie rannte. Duckte sich. Unter Marktständen hindurch. Sah sich immer wieder um. Angst schnürte ihren Hals zu. Wenn man sie erwischte, verlor sie die Hand oder schlimmeres. Sie jagte dahin. Plötzlich war da eine Wand aus Stoff. Jemand stand im Weg. Meerblau. Hanna stolperte, fiel auf ein Knie, wollte unter dem nächsten Tisch durchkrabbeln, der seitlich von ihr stand Da fischte sie eine Hand wieder nach oben.
»Sieh an, da haben wir das Gör ja, meine Dame.!«
Hanna zappelte, doch der Ritter hatte sie fest gepackt.«
»Ansgar, lass sie, es ist nur ein kleines Mädchen.«
»Aber sie hat gestohlen. Noch dazu vom Weihnachtsbaum.«
»Sicher hat sie Hunger«
Der Ritter ließ nicht los, doch die Dame beugte sich zu ihr. »Wie heißt du?«
ERschreckt starrte Hanna sie an und schwieg.
»Keine Angst. Wie heißt du?« versuchte es die edle Frau noch einmal.
Hanna schluckte und sah sie mit großen Augen an. Dann stammelte sie: »Ha… Hanna, Frau… Katharina«
»Du kennst mich?«
»Ihr ward schon oft auf dem Markt… und ich bin fast immer hier…«
»Warum hast du den Apfel gestohlen?«
»Ich habe seit Tagen nicht gegessen… und meine Geschwister auch nicht…« Trotzig schob Hanna ihr Kinn vor.
»Hab ich es nicht gesagt«, Katharinas Stimme klang leicht triumphierend.
»Ahhh ihr habt sie. Die Diebin muss die Hand verlieren.« Die zeternde Stimme des Mannes, der sie beim Diebstahl ertappt hatte, erklang von hinten.
Hanna begann haltlos zu zittern und umklammerte ihre Hand. »Bitte nicht, bitte nicht… ich tue es nie wieder…«
»Das sagen sie alle. Und irgendwann bleibt es nicht beim Stehlen, dann rauben und morden sie auch.«
Katharina schnaubte: »Sie ist ein kleines, hungriges DIng, sie wird euch kaum meucheln. Hier ist der Apfel zurück, hängt ihn an den Baum«
Der Mann knurrte. »Und was ist mit dem Blag? Solch ein Frevel verdient eine Strafe. SOnst tanzen sie uns bald alle auf dem Kopf herum.«
Katharina schüttelte leicht unwirsch den Kopf. »Ansgar halt sie gut fest, wir nehmen sie mit.« Und an den Mann gerichtet: »Sie wird ihre verdiente Strafe erhalten, keine Sorge!«
Hanna begann zu schluchzen, doch sie biss die Lippen fest zusammen und sagte nichts. Sie würde nicht betteln.
Der ganze Tross, Frau Katharina, Ansgar von Briant und wer die Dame sonst noch begleitete, machte kehrt. Es ging den Burgberg hinauf. Der Ritter hielt Hanna so fest am Arm, dass es schmerzte und obwohl Hanna es mehrfach probierte, konnte sie sich nicht losreißen. Im Burghof angekommen, ließ Katharina das Tor schließen und beugte sich zu ihr. »Hör zu, Hanna. Dir passiert nichts. Ich weiß, du hast Angst. Ich musste dich mitnehmen, damit der Grantler dort unten, der Kerl vom Marktplatz, endlich Ruhe gab. Und nun warte, ich will, dass du etwas kriegst.«
Katharina gab Ansgar einen Wink, der ließ Hanna zwar los, aber nicht aus dem Blick. Wenig später kehrte die Edeldame mit einem kleinen Korb zurück. Daraus duftete es so wunderbar, dass Hanna es kaum glauben mochte und oben auf lagen mehrere rote, runde Äpfel und lachten ihr entgegen.
»Was …?« Hanna sah die blonde Frau mit den meergrünen Augen und dem gleichfarbigen Kleid fragend an.
»Das ist mein Geschenk zur Weihnacht für dich, Hanna. Damit du und deine Familie sich einmal richtig satt essen können. Nimm es und dann geh und mach fürs Erste einen Bogen um den Marktplatz.«
Hanna nickte eifrig, nahm den Korb und rief Katharina und Ansgar noch ein »Danke!« zu.
Sie eilte den Burgberg hinab, jetzt mit freudig pochendem Herzen und nicht mehr vor Angst schlotternden Knien. Noch ehe sie zu Hause ankam, biss sie in einen der rotbäckigen Äpfel. Er zerplatzte in ihrem Mund und schmeckte wunderbar, süß und sauer zugleich. Saft floss ihre Kehle hinab und ihr Kinn. Sie leckte sich die Lippen. Mhhhh, das war besser als alles, was sie je hatte.
Zu Hause staunten Geschwister und Mutter über den Inhalt des Korbes, der von Pasteten über Äpfel und Birnen bis zu Bratenstücken und Brot alles enthielt, was man sich nur vorstellen konnte an guten Dingen. Sogar ein paar Nüsse. Und ganz unten fanden sich ein paar kupferne Münzen, die die Familie über die ärgste Winterzeit bringen würden. Dies war das wunderbarste Geschenk, dass sie je bekommen hatten. Nachdem alles aufgegessen war, brachte Hanna den Korb zurück zur Burg, aber obwohl sie bettelte, Frau Katharina bekam sie nicht zu Gesicht.